Im Fokus
Das Verhältnis von Zivildienst zu Zivilschutz, die Weiterentwicklung von Einsätzen im Betreuungsbereich und die Ausbildung von Zivis in Zeiten von Corona beschäftigten das ZIVI 2020. In drei Video-Interviews erhalten Sie Einblick in diese Themen: Christoph Hartmann, Direktor, ordnet die Diskussion um das Verhältnis von Zivildienst und Zivilschutz im Kontext der Weiterentwicklungen des Dienstpflichtsystems ein. Regula Zürcher Borlat, Stv. Direktorin und Leiterin Vollzug, erklärt, warum und wie Einsätze zugunsten von Menschen mit Behinderungen weiterentwickelt werden sollen. Alain Portmann, Leiter Fachbereich Einführung und Ausbildung ZIVI, schildert, welche pragmatischen und raschen Lösungen in der Pandemie-Situation 2020 bei der Ausbildung von Zivis gefunden werden mussten und was dies mit der digitalen Transformation zu tun hat. Weitere Aspekte zum Thema Einsätze zugunsten von Menschen mit Behinderungen gibt die folgende Reportage mit einem Einblick in den Alltag dreier Einsatzbetriebe, die Menschen mit Behinderungen betreuen.
Für Wohlbefinden und Inklusion
Jedes Jahr erbringen zahlreiche Zivis ihre Einsätze zugunsten von Menschen mit Behinderungen. Die Unterstützungsleistungen sind dabei so vielfältig wie die Bedürfnisse dieser Menschen. Mit ihrem Engagement leisten die Zivis einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden sowie zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen – und nehmen selbst viel für ihr Leben mit.
Es ist ein unscheinbares Gebäude, das sich zwischen Kirche und Hallenbad inmitten des Dorfes Wald (ZH) an einen Hügel schmiegt. Nur ein buntes Schild an der Einfahrt verrät, was sich darin befindet: das Behindertenzentrum der Stiftung WABE. Das Zentrum ist seit 2004 ein anerkannter Zivildienst-Einsatzbetrieb. «Wir haben uns damals für eine Zusammenarbeit entschieden, weil wir darin sowohl für uns als Organisation als auch für Zivildienstleistende einen grossen Mehrwert sehen», erklären WABE-Geschäftsführer Markus Kirchhofer und Teamleiterin Tagesstruktur Vanessa Crivelli. «Einerseits können wir tatkräftige Unterstützung – gerade in der herausfordernden Zeit der Pandemie – brauchen. Andererseits erachten wir es als unsere Aufgabe, Stigmatisierung und Vorurteile gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung wirkungsvoll abzubauen. Daher schätzen wir es sehr, im Rahmen eines Zivildienst-Einsatzes einen Berührungspunkt zu jungen Erwachsenen schaffen zu können.» Nebst dem Behindertenzentrum Wald gibt es über 330 weitere Einsatzbetriebe, die Menschen mit Behinderungen unterstützen.
Tatsächlich leisten jedes Jahr zahlreiche Zivis insgesamt mehr als 200 000 Diensttage zugunsten von Menschen mit Behinderungen (siehe Infokasten «Zahlen und Fakten»). «Menschen mit Behinderungen» ist dabei ein sehr weit gefasster Begriff (siehe Infokasten «Behinderung»), hinter dem sich eine grosse Vielfalt an Personen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen verbirgt. So verschieden die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sind, so vielfältig sind auch die Aufgaben der Einsatzbetriebe, in denen Zivis ihre Einsätze leisten: Sie reichen von Behindertenwohnheimen über Werkstätten bis hin zu Begleitdiensten. Dadurch ergibt sich eine breite Palette an Unterstützungsmöglichkeiten für die Zivis.
Vielfältige Unterstützung
Die Vielfalt an Unterstützungsaufgaben zeigt sich beim näheren Blick auf drei ausgewählte Einsatzbetriebe: Einer dieser Einsatzbetriebe ist das «Zentrum für Gehör, Sprache und Kommunikation (GSR)», speziell die Sprachheilschule in Aesch BL. Dabei handelt es sich um ein Fachzentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit einer Spracherwerbs- und Kommunikationsstörung respektive mit einer Hörbeeinträchtigung. Zivis kommen hier primär als Klassenassistenten im schulischen Alltag zum Einsatz. «Auch dank des Engagements der Zivis kann die Chance erhöht werden, dass diese Schülerinnen und Schüler trotz ihrer Beeinträchtigung ihre Fähigkeiten und Begabungen entwickeln und einen Platz in der Gesellschaft finden können», schildert Claudia Sturzenegger, Leiterin der GSR Sprachheilschule.
Eine andere Art von Einsatz erleben Zivis bei «insieme Genève». Hier begleiten sie Menschen mit Behinderungen beispielsweise auf kleineren Ausflügen. Wie die Generalsekretärin von «insieme Genève», Céline Laidevant, ausführt, ermöglichen Zivis es ihnen damit, «neue Leute kennenzulernen und ein wenig aus dem grauen Alltagsleben auszubrechen». Die Zivis leisten dadurch einen wichtigen Beitrag zur Steigerung des Wohlbefindens von Menschen mit Behinderungen.
Auch zur Entlastung von betreuenden Angehörigen kommt der Zivildienst zum Einsatz. So unterstützen Zivis den Verein Hilfe für hirnverletzte Kinder (hiki), indem sie direkt zu Hause bei den Familien eingesetzt werden. «Sie übernehmen Aufgaben bei der Betreuung des Kindes oder Jugendlichen mit einer Hirnverletzung sowie der Geschwister und im Haushalt», erklärt Vanda Mathis, Geschäftsführerin von hiki. «Für die Familien ist diese Art der Entlastung einzigartig und äusserst wertvoll», weiss Mathis. Wie derartige Einsätze vermehrt und gezielt geleistet werden können, soll daher ab 2021 im Pilotprojekt «ambulante Betreuung» des Zivildienstes geprüft werden (siehe auch Video «Einsätze mit behinderten Menschen»).
Horizonterweiterung mit Folgen
Von all diesen Einsätzen profitieren nicht nur Menschen mit Behinderungen und ihre betreuenden Angehörigen. Den Zivis selbst bietet sich die einmalige Gelegenheit, Berührungsängste abzubauen und den Horizont zu erweitern. Sogar eine berufliche Neuausrichtung kann sich aus einem solchen Einsatz ergeben, wie Vanessa Crivelli erzählt: «Ich kann Ihnen von einem jungen Mann berichten, der bei uns seinen Zivildiensteinsatz geleistet hat. Er kommt ursprünglich von einem mechanischen Beruf. Der Einsatz bei uns hat ihn so von der Arbeit mit Menschen überzeugt, dass er nun Ergotherapie studieren möchte.» So kann auch der Einsatz in einem unscheinbaren Gebäude lebensverändernd sein.
Zahlen und Fakten: Zivi-Einsätze zugunsten von Menschen mit Behinderungen
- 2020 gab es 334 anerkannte Einsatzbetriebe, bei denen Zivis Einsätze zugunsten von Menschen mit Behinderungen leisten konnten.
- 2020 leisteten Zivis insgesamt 208 028 Diensttage in Werkstätten oder Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen. Dies ist seit 2016 eine Steigerung um 28,4 %.
- In den letzten fünf Jahren kamen Werkstätten oder Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen insgesamt knapp eine Million Diensttage zugute.
Was ist eigentlich eine «Behinderung»?
Es gibt verschiedene Definitionen. Eine präzise findet sich in Artikel 2 Absatz 1 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG). Demnach sind Menschen mit Behinderungen all jene Personen, die eine voraussichtlich dauerhafte körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung haben, die es ihnen erschwert oder gar verunmöglicht, ihrem Alltag nachzugehen, soziale Kontakte zu pflegen, mobil zu sein, eine Aus- oder Weiterbildung zu absolvieren oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben.
Ausgehend von dieser Definition schätzt das Bundesamt für Statistik (BfS) die Zahl der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz auf rund 1,7 Millionen. Die meisten von ihnen haben eine körperliche Behinderung, ca. 50 000 sind kognitiv oder psychisch beeinträchtigt. 27 % der Menschen mit Behinderungen gelten als «stark beeinträchtigt». Sie können den Alltag kaum oder gar nicht selbstständig meistern und leben daher meist in Betreuungsinstitutionen.